Wir leben immer im Spannungsfeld zwischen der sogenannten Normalität und der Nicht-Normalität oder Un-Normalität, dem Normalen und dem Nichtnormalem. Wir erleiden momentan in Krisenzeiten ein Dauer-Bombardement mit unterschiedlichsten Normalitätsbegriffen. Angst, Unsicherheit und Verwirrung essen Häppchen für Häppchen unsere Seelen auf. Aber was ist eigentlich normal? Wer definiert das? Wer weiß das schon? Keiner, jeder oder nur manch Auserwählte? Allgemein definiert unterscheidet man zwei Normalitätsbegriffe:

Normalität in der Soziologie = Das Selbstverständliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss. Dieses Selbstverständliche betrifft soziale Normen und konkrete Verhaltensweisen von Menschen. Es wird durch Erziehung und Sozialisation vermittelt.

Normalität in der Psychologie = Ein erwünschtes, akzeptables, gesundes, förderungswürdiges Verhalten im Gegensatz zu unerwünschtem, behandlungsbedürftigem, gestörtem, abweichendem Verhalten. Auch Wahnsinn, Verrücktheit, gestörtes Seelenleben, psychische Krankheit ist damit gemeint.

Was ist denn schon normal? Und vor allem wer ist denn schon normal?

Sobald wir jemandem näher kommen, erkennen wir: Es gibt sie gar nicht, diese Normalität. Welchen der Menschen, die wir gut kennen, würden wir schon als vollkommen normal bezeichnen? Mit manchen ungewöhnlichen Angewohnheiten schmücken wir uns sogar. Schließlich wollen wir Individualisten sein. So ist es schon wieder normal geworden, nicht normal, also außergewöhnlich, sein zu wollen. Das ist gar nicht so leicht, denn viele wollen das. Ja, sie gieren geradezu danach. Und unsere Gesellschaft ist unfassbar saugfähig für das Unnormale.

Plötzlich ist das vermeintlich Unnormale cool und hip.

Wer glaubt, anders zu sein, surft vielleicht nur auf einer neuen Modewelle. Ich glaube, dass wir unsere Normalität, auch unsere Unnormalität, permanent hinterfragen müssen, wenn wir uns entwickeln wollen. Was gestern noch normal war, kann heute schon Enge und Überheblichkeit bedeuten.

Dann gibt es gesellschaftliche Sehnsüchte, die noch nicht offen ausgelebt werden. Vielleicht sind sie verboten oder man glaubt es zumindest. Bevor sie gelebt werden dürfen, muss erst einer kommen, der sich traut, kreuz und quer zu denken und zu handeln. Oft sind es Menschenrechtler, Wissenschaftler, Künstler oder Menschen, die nicht auf das Ausleben ihrer Veranlagungen, Sehnsüchte und Wünsche verzichten wollen. Sie werden zu Stellvertretern für diese verborgenen inneren Welten. Randgestalten, die nie richtig in die normale Gesellschaft hineingekommen sind. Weil sie ihr um Längen voraus waren. Doch ohne sie hätte sich unsere Gesellschaft nicht von der Stelle bewegt.

Wir brauchen Menschen, die nicht ganz normal sind.

Auch wenn wir es nicht gerne sehen oder gar bestreiten. So herrscht Normalität oft nur auf den ersten oberflächlichen Blick. Aber wer tiefer vordringt, Schicht um Schicht abschält, entdeckt stets etwas, das außerhalb der Norm steht.

Wir erleben gerade historisch einmalige und unnormale Tage und Monate. Die größte Krise seit Jahrzehnten verlangt von uns Menschen, das Gewohnte und auch so viel lieb Gewonnenes aufzugeben: Sicherheit, Vertrauen, Optimismus, Planbarkeit sind uns abhanden gekommen, weggenommen worden. Und doch wird uns, dem Volk, auf den Bühnen des Polittheaters Normalität verkleidet in unterschiedlichsten Gewändern von den Regisseuren und Schauspielern der Politik vorgegaukelt. Die „Alte Normalität“, die „Neue Normalität“, die „Rückkehr zur Normalität“, die „Hoffnung auf Normalität“, die „heiß ersehnte Normalität“, … Diese Show ist nicht normal, sie ist nicht gut. Immer mehr von uns durchschauen das Schauspiel und verlassen das Theater.

Neue Normalität: Das bedeutet, wir müssen uns anders verhalten als vor der Krise. Der Begriff des „Neuen Normalen“ wurde 2018 durch den österreichischen Sprachphilosophen und Politikwissenschaftler Paul Sailer-Wlasits geprägt und im deutschsprachigen Raum in den gesellschaftlichen Diskurs eingeführt. In Österreich hat Bundeskanzler Kurz das Schlagwort seit Mitte April 2020 rhetorisch gehäuft verwendet und etabliert. Ich unterstelle ihm, sicherlich gut gemeint. Es kann in einer Demokratie aber nicht normal – auch nicht neu-normal – sein, dass bestimmt wird, wann ich überhaupt wo mit wem und wie hingehen kann. Ob und wie ich meinen Beruf ausübe. Normal ist das sicher nicht. Es ist nicht schön, es ist nicht gut und es gehört nicht in eine Demokratie, wenn wir fremdbestimmt werden.

Kann denn überhaupt etwas, was neu ist, schon im selben Moment wieder normal sein. Dann wird und kann es nie was Anderes geben als die eine normale Normalität. Schluss mit dem aus unzähligen Mäulern herauskriechenden Geschwafel von der sogenannten Normalität. Jetzt ist nämlich überhaupt nichts normal.

Nichts ist normal, das ist normal.

Aber wollen wir alle so normal sein. Normalität fühlt sich oft nicht nur langweilig an. Viel schlimmer noch. An der von den Obrigkeiten immer wiedergekauten und von vielen Menschen so sehnlich herbeigewünschten Normalität klebt auch der abstoßende Geruch von

  • Massenmenschhaltung
  • Mitrennen mit der blökenden Herde
  • Fadesse
  • Austauschbarkeit
  • Beschwichtigung
  • Gleichmacherei
  • Illusion
  • Scheitern
  • ….

Wir haben uns doch alle bemüht, Lesen und Schreiben zu lernen. Viele von uns haben sich auch in der Kunst des Denkens geübt, sind zu kritischen Geistern herangewachsen. Weil wir gelernt haben, dass Lesen und Schreiben uns nichts nützt, wenn wir das Denken den Anderen überlassen. Eigenes Denken macht den Menschen erst interessant, einzigartig, kreativ, erfinderisch und wertvoll. Macht ihn zum Menschen. Es ist die feine Würze, die den entscheidenden Unterschied ausmacht.

Kritisches Denken ist vielleicht für die Machthabenden unerwünscht, aber nicht verboten, nicht illegal, und daher auch nicht strafbar. Und ein Bollwerk für Demokratie, Rede- und Pressefreiheit, Freiheit. Schützt vor vielen Gefahren, Risiken und stärkt das Selbstvertrauen.

„Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.“ soll Benjamin Franklin gesagt haben. Mit anderen Worten: Der Entwurf von Normalität trägt von vornherein das Scheitern in sich. Für Spießer ist es undenkbar, dass so etwas wie Normalität nicht wirklich existiert, dass sie nur eine Illusion ist, der sehnsüchtige Wunsch eines Kindes. Das Problem sind Menschen, die glauben, normal zu sein, gut zu sein oder jene, die ganz gesund leben wollen. Menschliches Leben ist immer ein Drahtseilakt und somit gefährlich.

Kluge Menschen wissen, dass es im Leben keine Sicherheit gibt, dass die Vorstellung einer geordneten Normalität absurd ist. Die gefährlichen Menschen sind jene, die nicht wahrhaben wollen, dass die Welt nicht in Ordnung ist. Die auf die verrückte Fantasie von Normalität angewiesen sind, um ihrem Leben Struktur zu geben. Diese Menschen sind das Risiko.

5 „unnormale“ Wahrheiten, die dir weh tun können, aber ganz normal sind:

5.panta rhei (altgriechisch πάντα ῥεῖ  ‚alles fließt‘) ist ein auf den griechischen Philosophen Heraklit zurückgeführter Begriff. Alles fließt und nichts bleibt; es gibt nur ein ewiges Werden und Wandeln.

Alles ändert sich, jede Sekunde. Plötzlich ist das vermeintlich Unnormale cool und hip. Was gestern noch normal war, kann heute schon vergessen sein.. Veränderung ist die einzige konstante Normalität. Auch das ist ganz normal.

4. Was du besitzt bist nicht du. Es ist nicht normal, dass Menschen unvorstellbare Reichtümer besitzen. Es ist auch nicht normal, dass Millionen von Menschen nicht genug zum Leben haben.

Reichtümer werden vererbt oder erarbeitet, aber immer von vielen Menschen gemeinsam, unmöglich von einem einzelnen, auch wenn er die Idee hatte. Und es sagt nichts, bestenfalls wenig, über den wahren Wert eines Menschen aus. Auch das ist ganz normal.

3. Denken, sagen und tun sind nicht immer gute Geschwister. Leute sagen nicht immer, was sie denken. Sie sagen was, ohne nachzudenken. Sie denken Dinge, die trauen sie sich gar nicht auszusprechen.

Und sie tun schon gar nicht immer das, was sie sagen und denken. Sie tun oft das genaue Gegenteil. Sie schweigen, verheimlichen, führen hinters Licht und lügen. Traue keinem blind, nicht einmal dir selbst. Auch das ist ganz normal.

2. Manche Menschen sind einfach nicht gut für dich. Tue dich mit denen zusammen, die singen, Geschichten erzählen, das Leben genießen und Freude im Blick haben. Die Experimente wagen, Risiken eingehen und mit tränenden Augen erhobenen Hauptes gehen.

Halte dich von jenen fern, die Wahrheiten zu kennen behaupten, die Andersdenkende kritisieren. Die erhobenen Hauptes gehen, weil sie nie geweint, nie zur Seite geblickt haben. Vielleicht findest du diese Menschen auch in deiner Nähe, in der eigenen Familie, im Freundeskreis. Auch das ist ganz normal.

1.Was du tust, interessiert (fast) keinen. Gewünscht ist doch, dass du dich selbst optimierst, funktionierst, deine zugedachte Rolle gut und erfolgreich spielst, genug Geld verdienst und gesellschaftlich akzeptabel bist. Möglichst unauffällig und leicht steuerbar.

Gefühle, Träume und Wünsche werden abgetan als Fantasien, Spinnereien. Ich aber fordere dich auf: Funktioniere nicht, atme! „Don´t die before you´re dead.“ Auch das ist ganz normal.

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Neue Normalität ist offenbar, wenn wir so tun, als sei eh alles wie gestern, nur halt ab jetzt wieder und offiziell normal. Zwischendurch haben wir eben ein bissel streng gerochen im Homeoffice, und so schlimm war das mit dem Homeschooling dann ja auch wieder nicht, ganz ehrlich gesagt …

Für einige von uns spielt’s „normal“ zwar sicher nicht, auch nicht in neu. Da sind Jobs weg und Einkommen und sonst auch noch jede Menge von dem, das früher ganz normal war und auch sein sollte. Und das ist alles, aber sicher nicht normal. Aber was ist jetzt? Ich bin nach all dem und überhaupt ganz unsensibel der Meinung:

Nichts ist normal.

Das ist normal.

Und wird hoffentlich immer normal bleiben.